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Die Vorläufer von DiCaprio und Cameron. In der Berliner Chausseestraße wurde der erste Titanic-Film gedreht


Die Nachbarschaft ist historisch prominent. Gegenüber steht das Borsighaus, in dem bis 1945 die Verwaltung des Unternehmens seinen Sitz hatte. Zur Linken liegt das Brechthaus, und zur Rechten befindet sich eine ewige Baugrube. Hier hatte einst Karl Liebknecht seine Rechtsanwaltspraxis. In diesen Räumen wurde am 1. Januar 1916 der Spartakusbund gegründet. Kaum jemand weiß, dass auch das Haus in der Chausseestraße 123 eine bemerkenswerte Geschichte erzählen kann. Hier lassen sich Anfänge der Berliner Filmproduktion verorten. Bereits zwei Monate nach dem Untergang der Titanic wurde hier im Juni 1912 die erste Verfilmung der Katastrophe realisiert.

Das langgestreckte Wohn- und Geschäftshaus wurde 1896 von dem Architekten und Zimmermeister Carl Galuschki errichtet. In der Vorderhausfassade aus rotem Sandstein vereinigen sich Elemente verschiedener Epochen. Der Jugendstil dominiert. Die Vorderhausdurchfahrt mit farbig glasierten Fliesen nimmt die Gestaltung der beiden Innenhöfe vorweg. In einem ehemaligen Fotoatelier unter einem Glasdach im Dachgeschoss arbeitet hier der Filmpionier, Technikfreak und Kameramann Guido Seeber mit der Deutschen Bioscop GmbH seit 1909. Unter anderen entstehen hier die ersten acht großen Filme des Stummfilmstars Asta Nielsen, ehe das Unternehmen neue Produktionsstätten in Potsdam-Babelsberg errichtet. Von 1912 bis 1918 hatte die Continental-Filmkunst in der Chausseestraße 123 ihren Sitz.

Die erste Verfilmung des Titanic-Untergangs trägt den Titel: „In Nacht und Eis“. Buch und Regie stammen von Mime Misu, der rumänischer Abstammung war, sich aber auch gerne mal als Amerikaner ausgab. Er agiert auch noch als Darsteller des heroischen Kapitän Smith. Die Kamera führte u.a. Emil Schünemann, der später oft mit Fritz Lang arbeitete. Gedreht wurde an der Ostseeküste, am Grüpelsee in Königs Wusterhausen, wo ein von leeren Bierfässern getragenes Modell Dampf speiend untergehen musste, und eben im Hinterhof der Chausseestraße 123. Ein Reporter des Berliner Tagblattes berichtete über die Dreharbeiten: „Aus den Fenstern der Hinterzimmer sehen, halb neugierig, halb ängstlich, die Mitbewohner auf das seltsame Treiben da unten. Also ein „Aufbau“ wie auf jeder Bühne, nur plein air. Auf die Leinwand ist die Dekoration des Kesselraums gemalt, wirkliche Manometer und wirkliche Luken, durch die dann Dampf und Feuer kommen wird (…) Wirkliche Kohlen werden zugeschaufelt und starke Männer stehen rechts und links von der mit Segeltuch überdeckten Szene, an Riesenfässer gelehnt, aus denen Sturzwellen fließen werden. Ein paar halbnackte Gesellen, berußt, naß, mit wirrem Haar, warten auf das Zeichen des Regisseurs, um die Verzweiflungs-Botschaften des Kapitäns zu vernehmen, der, mit angeklebtem weißem Spitzbart natürlich, im marineblauen Rock inzwischen noch mit den Kurbelmännern an den kinematographischen Apparaten berät. Dann geht´s an. Durch eine nicht allzu komplizierte mechanische Vorrichtung wird die ganze Bühne ins Schaukeln gebracht. (…) Die Komödianten waten über die nasse Leinwand, wälzen sich in den Kohlen, taumeln und fallen in den Maschinenraum, der Kapitän schreit und reißt mit verzweifelten Gebärden an einem Heizer herum, der im Wasser schwimmt. (…) Ein paar Augenblicke war´s wirklich sehr aufregend. Jetzt wird abgebaut. Der Briefträger geht durch den Chausseestraßenhof, über den die Wellen der „Titanic“ eben in den Abflußkanal strömen.“

Neben dieser Schilderung der Dreharbeiten, bleiben noch drei Zensurkarten von „In Nacht und Eis“ erhalten. Auf diesen Karten wurden die einzelnen Szenen eines Films festgehalten und vermerkt, ob es behördlicherseits Einwände gegen die Vorführung gab. Der Film selbst galt als verschollen, bis 1998 eine 16-Milimeter-Kopie im Archiv eines privaten Sammlers auftauchte. Weltweit 80 Prozent aller Stumm- und frühen Tonfilme aus der Zeit zwischen 1895 und 1930 gelten als verschollen. Der bis in die 50er Jahre übliche Nitrofilm war extrem leicht entflammbar. Feuer zerstörte viele Kinos, Lagerräume und Filmarchive. Beispielsweise brannte 1937 ein Lagerraum von Fox Pictures nieder und mit ihm alle vor 1935 gedrehten Negative. Bei falscher Lagerung zersetzen sich Nitrofilme, genau wie die von Kodak 1940 auf den Markt gebrachten Acetatfilme.

Die meisten verschwundenen Filme wurden jedoch absichtlich zerstört. Abgenutzte Kopien und Filme wurden von den Studios eingeschmolzen, um den enthaltenen Silberanteil zu gewinnen. Mindestens dreimal gab es Vernichtung im großen Stil: Um 1915, als Langfilme zur Norm wurden, zerstörte man zahlreiche, nicht mehr auswertbare Kurzfilme. Ende der 20er, als der Tonfilm sich durchsetzte, wurden Massen von Stummfilmen vernichtet. Vieles, was diese Säuberungen überstand, wurde dann ab den 40ern vernichtet, als man ausgesuchte Nitrofilme auf nichtbrennbares Material kopierte und den Rest aus Sicherheitsgründen vernichtete.

Aber zurück zur Chausseestraße. Die Continental-Studios drehten dort noch zahlreiche Filme, u.a. mit Harry Piel, dem legendären Detektivdarsteller, und mit dem populären Regisseur Jo May. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs übernimmt die Argus-Film GmbH die Räume. Der junge Ernst Lubitsch dreht in der Chausseestraße wiederum mit Asta Nielsen. Später hatten hier kleinere Filmfirmen ihren Sitz. 1922 residierte in dem Gebäude beispielsweise eine Nobody Film GmbH. 1938 zieht die Werkzeug-Handels-Abteilung und die Betriebskrankenkasse der AEG ein. Zu DDR-Zeiten war hier die Konzert- und Gastspieldirektion Berlin untergebracht und nach der Wende für ein paar Jahre der Museumspädagogische Dienst. In den 90ern erledigte ich für letzteren auch einige Jobs. Von meinem Bürofenster aus konnte ich über den Hinterhof auf die Friedhöfe der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden sehen. Gerüchteweise hörte ich von dem ehemaligen Filmatelier, aber es war unmöglich einen Blick in die Räume zu werfen, da sie baupolizeilich gesperrt waren. Das Gebäude wurde 2008 von einem privaten Investor saniert. Heute befinden haben sich hier überwiegend Werbeagenturen eingemietet. Die renommierte Akademische Buchhandlung Paul Schober, die einige Jahrzehnte im Vorderhaus ansässig war, musste 2002 schließen. Einen Nachfolger gibt es bisher nicht.

Adresse: Chausseestraße 123, 10115 Berlin


10 Antworten to “Die Vorläufer von DiCaprio und Cameron. In der Berliner Chausseestraße wurde der erste Titanic-Film gedreht”


  1. 21. Februar 2010 um 20:59

    Tolle Geschichte! Hat Metropolis inspiriert?

  2. 22. Februar 2010 um 12:23

    So ein Sturm im Hinterhof war auch sicher viel preisgünstiger als die Materialschlacht von Cameron?

  3. 23. Februar 2010 um 12:22

    @vilmos: Sagen wir, die Wiederaufführung von Metropolis hat mich daran erinnert, dass ich diese Geschichte schon lange auf dem Plan hatte.

    @oachkatz: In den Kindertagen des Films, wurde viel improvisiert. Manches (wie auch der überschwängliche Gestus der Akteure) wurde vom Theater oder vom Tingeltangel übernommen. Da hielten sich Aufwand, Bauten und Personaleinsatz in Grenzen. Doch wo man anfing, die Möglichkeiten des neuen Mediums Film auszureizen, konnte es auch schon teuer werden. Die Monumentalfilme von D.W. Griffith „The Birth of a Nation“ (1915) und „Intolerance“ (1916) sind Beispiele. Letzterer soll nahezu 2 Millionen US-Dollar gekostet haben. Die Produktionskosten von „Metropolis (1925/26) lagen bei 5 Millionen Reichsmark. Nach heutiger Kaufkraft wären das 16.6 Millionen Euro.

  4. 4 joulupukki
    30. März 2010 um 21:03

    Sehr schöner Artikel, Strohheim! Danke dafür.
    Hab mir gerade alle 4 Filme gleichzeitig angesehen, das ergibt herrliche Soundkombinationen ^

    • 5 Niels Klim
      3. April 2010 um 11:25

      Wenn Du auf avancierte (Re)Mixes und die Macht des Zufalls stehst, wirst Du sicher auch an dieser legendären Soundcollage für mindestens 4 Performer mit mindestens 12 Cassettenrecordern und 88 tape-loops Deinen Spaß haben:

      • 6 joulupukki
        4. April 2010 um 08:59

        *lol* Ja, das hat was! Erinnert mich stark an meine ersten diletantischen Versuche, mit Kassetten Remixes zusammenzustellen. Also, nicht, dass das Werk diletantisch wäre, aber der Kassetten Effekt ist unüberhörbar! ^

  5. 31. März 2010 um 23:13

    Joulu: Du hast so eine gewisse anarchistische Ader. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, sie wäre mir nicht sympathisch!

    • 8 joulupukki
      4. April 2010 um 08:58

      Hm … hast du dich nicht auch schon mal gefragt, wie es sich anhören müsste einmal alle Geräusche der Welt auf einmal zu hören? Das müsste dann sowas, wie das ultimative akkustische Schwarz sein, oder so. Wäre doch mal interessant!

  6. 6. Juli 2017 um 18:18

    Ein sehr schöner Bericht. Ich werde die Location wohl mal besuchen gehen. 😉 Jedoch glaube ich mal gelesen zu haben, Misu hätte eine andere Rolle im Film gespielt. Ich dachte auch immer es wäre der Kapitän gewesen. Aber das passt vom Alter her nicht, da Misu 1912 gerade einmal 24 Jahre alt war.


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