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Wie ich einmal meinen selbst erteilten Bildungsauftrag am Bahnhof Westhafen erfüllte


Der Berliner U-Bahnhof Westhafen wurde im Jahr 2000 nach Entwürfen der Künstlerinnen Francoise Schein und Barbara Reiter sehr ansprechend umgestaltet. Während die Wände des U-Bahnsteigs die Erklärung der Menschenrechte wiedergeben, geht es im Übergang zur S-Bahn zweisprachig um die Erfahrung, die der Dichter Heinrich Heine während seines Exils in Frankreich machen musste. Genauer um die Schwierigkeiten, die die Franzosen mit der Aussprache seines Namens hatten. Von Monsieur Heinrich Heine über Monsieur Henri Heine, Monsieur Enri Enn, Monsieur Enrienne zu Monsieur Un Rien (= ein Nichts). Die Berliner Verkehrsbetriebe haben wohl eher ein pragmatisches Verhältnis zur Kunst. Einzelne Zeilen sind nicht mehr lesbar, weil man ein Telefon und einen Geldautomaten davor montiert hat. Das ist kundenfreundlich, denkt sich der Herr BVG-Entscheidungsträger. Das ist serviceorientiert, denkt sich der Herr BVG-Entscheidungsträger und dass es einerlei sei, ob damit der ganze Text nicht mehr funktioniere. Wenn ein modernes Unternehmen hobelt, fallen eben Späne, denkt er und dass die Fahrgäste mit diesem Heine eh nichts anzufangen wissen.

Westhafen 1

Gestern trat das vom Herrn BVG-Entscheidungsträger imaginierte Zielpublikum in meine Realität. Drei männliche Jugendliche, leicht alkoholisiert, kurzhaarig, teils mit so komischen Deppencaps verunstaltet, die wohl cool wirken sollen, wenn man sie so klein wählt, dass sie gar nicht auf die Hohlköpfe passen können. „Ey wir sin hier in Doitschland, wieso steht hier kein Doitscher?“ gröhlte es aus einem der Hohlköpfe. Ich befand mich in einer Laune, die mich dazu bemüßigte auf den Schreihals zu reagieren: „Heinrich Heine war Deutscher. Es gibt eben auch Deutsche, die Fremdsprachen beherrschen, wenn auch sicher nicht in Eurem Bekanntenkreis.“ Ja, ich weiß, dass das arrogant, überheblich und vielleicht auch ein bisschen gefährlich war, aber auf die Schnelle fiel mir nichts Besseres ein. Die drei schauten sich verwundert an, schauten mich verwundert an. Man sah, wie ihre kleinen Hirne arbeiteten und eine passende Reaktion auf diese Situation zu finden versuchten. Zuschlagen? Irgendetwas erwidern? Nur was? Schließlich zogen sie wort- und reaktionslos weiter. Bildungsauftrag für heute erfüllt, dachte ich.

Westhafen 2

Jetzt muss ich nur noch irgendwie auf den Herrn BVG-Entscheidungsträger treffen. Dann erfülle ich meinen selbst erteilten Bildungsauftrag auch an ihm.


13 Antworten to “Wie ich einmal meinen selbst erteilten Bildungsauftrag am Bahnhof Westhafen erfüllte”


  1. 1 Niels Klim
    1. April 2010 um 13:09

    Diesen jugendlichen Einfaltspinseln könnte man – mit ebenjenem geschmähten Henri Heine – entgegnen: „Die Freiheit der Meinung setzt voraus, daß man eine hat“. Oder – wie es Karl Kraus seinerzeit sehr pointiert formulierte: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken“. Ich wünsche Dir jedenfalls weiterhin den erforderlichen Mut und Witz, um Deinen Bildungsauftrag unbeschadet zu Ende zu bringen

  2. 2 karu02
    1. April 2010 um 14:23

    Mutig! Und gut! 🙂

  3. 2. April 2010 um 09:50

    Was für eine großartige Überschrift – die könnte von einem BVG-Entscheidungsträger stammen.

  4. 4 joulupukki
    4. April 2010 um 09:07

    Bravo, Strohheim! Dafür vergebe ich ganze 5 Haltungsnotensterne!

  5. 5 hotzenplotz
    14. April 2010 um 15:14

    Aber der von der BVG kriegt dann ordentlich auf die Fresse, hoffe ich?

  6. 9 walterlenz
    9. Juli 2010 um 15:02

    Ein sehr schönes Kunstprojekt das verteidigungswert ist.

  7. 27. Juli 2010 um 10:00

    Der Name wurde eh schon zu UN RIEN, da ist es doch nur konsequent, dass die BVG die Auslöschung doppelt.

  8. 4. März 2011 um 00:59

    Guten Abend Herr Stroheim,
    herzlichen Dank für Ihr Engagement für unseren U-Bahnhof. Das ist die Schönheit des Internets: ich habe Ihren Beitrag gefunden (digita), mich gefreut (analog), und sende Ihnen einen Link zu dem Film, den ich über das Projekt gemacht habe (digital):

    Ausserdem sende ich sehr herzliche Grüsse nebst meinem Bedauern (analog), dass es seit einiger Zeit nichts mehr von Ihnen zu lesen gibt.
    Barbara Reiter

  9. 8. März 2011 um 13:19

    Liebe Barbara Reiter,

    es schmeichelt mir sehr, dass Ihnen mein kleiner Beitrag gefallen hat und Sie Ihren interessanten Film über Ihr bemerkenswertes U-Bahn-Projekt hier gepostet haben. Mit seiner Hilfe haben sich mir einzelne Details Ihrer Bahnhofsgestaltung erst ganz erschlossen. Vielen Dank.

    Und demnächst schreibe ich auch wieder.


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