25
Nov
19

„Nachrichten von Pogromen sind erfunden“


Am 5. und 6.November 1923 zogen Berliner plündernd und prügelnd durch das jüdische Scheunenviertel/ Vor allem „Ostjuden“ dienten als Sündenböcke für die galoppierende Inflation/ Nur mangelhafter Schutz durch die Polizei.

Pogrome gegen Fremde haben ihre Tradition in Deutschland, und diese Tradition beginnt keineswegs erst mit der Naziherrschaft. In diesen Tagen jähren sich in Berlin zum 69. Mal Ereignisse, die man in den Geschichtsbüchern vergeblich sucht, die aber angesichts der vielfältigen Parallelen zu aktuellen Geschehnissen durchaus des Erinnerns wert sind. Am 5. und 6.November 1923 zogen Berliner Bürger plündernd und prügelnd durch das hauptsächlich von orthodoxen jüdischen Einwanderern bewohnte Scheunenviertel.

Es war das Berlin der Hyperinflation – das Deutsche Reich war aus dem Ersten Weltkrieg hochverschuldet hervorgegangen und hatte die Finanzierungslücken der Folgejahre durch fortgesetztes Betätigen der Notenpresse ausgeglichen. Die Lebenshaltungskosten waren am 5. November 1923 auf das 98,5milliardenfache der Vorkriegszeit gestiegen, meldete das Statistische Reichsamt. Die Bauern hielten ihr Getreide zurück, die Großhändler das Mehl, die Bäcker das Brot.

Die Arbeitslosenkurve hatte einen rasant ansteigenden Verlauf genommen. Die Unterstützungskassen waren dazu übergegangen, einen Teil ihrer Zahlungen in wertbeständigen Zahlungsmitteln zu leisten und machten damit das Chaos perfekt, denn außer geschäftstüchtigen Devisenhändlern konnte kaum einer die diversen Geldsorten, die sich im Umlauf befanden, auseinanderhalten.

Ein erneuter Sturz der Reichsmark an der New Yorker Börse, der am Samstag, dem 3. November, bekannt wurde, führte zu Menschenansammlungen vor den Bäcker- und Fleischerläden und ersten Plünderungen. Aber erst als die städtische Preisprüfungsstelle am Montag bekanntgab, der Brotpreis betrage ab sofort 140 Milliarden Mark, kam es in beinahe allen Stadtbezirken zu Plünderungen. Das Vorgehen der Plünderer war keineswegs einheitlich. Wurde bei dem Überfall auf einen Brotwagen in Moabit der Kutscher gezwungen, sein Brot zwangsweise zu einem „gerechten Preis“ abzugeben, oder forderten in Kreuzberg Erwerbslose, während sie ihre Karten vorzeigten, von einem Händler Lebensmittel und gestatteten ihm anschließend, die Nummern der Karten zu notieren, so unterschied sich die Vorgehensweise im Scheunenviertel erheblich. Die Vossische Zeitung berichtete: „Am Vormittag gegen 11 Uhr stauten sich vor dem Arbeitsamt in der Alexanderstraße Zehntausende von Erwerbslosen, weil es hieß, dass das Amt Unterstützungsgelder ausgeben würde. Eine halbe Stunde später wurde jedoch mitgeteilt, dass kein Geld vorhanden sei. Der Menge bemächtigte sich eine große Erregung, und diesen Augenblick benutzten, wie einwandfrei festgestellt worden ist, gewerbsmäßige Agitatoren, um überall herumzuerzählen, dass die in der Münz-, Dragoner- und Grenadierstraße ansässigen ,Galizier‘ das von der Stadt besonders zur Erwerbslosenfürsorge herausgegebene wertbeständige Notgeld planmäßig aufgekauft hätten. Diese Hetzreden fanden Boden, und wenige Minuten später, etwa gegen zwölf Uhr mittags, begannen dann auch die Plünderungen jüdischer Geschäfte und Wohnungen. Ehe die erschreckten Bewohner dieser Gegend ihre Geschäfte schließen konnten, drangen Haufen besonders jugendlicher Burschen in die Läden und Zimmer ein, prügelten die Bewohner, zogen ihnen die Kleider vom Leib und flohen. Dieses Treiben wurde systematisch etwa eine Stunde von Haus zu Haus fortgesetzt, ehe die Schutzpolizei alarmiert war. Jeder auf der Straße gehende jüdisch aussehende Mensch wurde von einer schreienden Menge umringt, zu Boden geschlagen und seiner Kleider beraubt.“

Als Ecke Grenadier-/Hirtenstraße ein Ausgeplünderter in das Geschäft des Schlachtermeisters Silberberg flüchtete, nahm dieser ihn in Schutz. Als die Menge den Laden daraufhin stürmen wollte, stellten sich ihr der Schlachter und sein Schwiegersohn, mit ihren Beilen bewaffnet, entgegen und wurden selbst durch Messerstiche so schwer verletzt, dass beide ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten, wo Silberberg seinen Verletzungen erlag. Trotz des Eingreifens der Polizei verstärkten sich während der Nachmittagsstunden die Ausschreitungen im Scheunenviertel weiterhin und hielten bis in die Nacht hinein an.

Berlin, Hirtenstraße Ecke Grenadier Straße, 1930. Links im Bild die Fleischerei Meier Silberberg, Quelle: Thomas Wehner, Pinterest

Da die Polizei nur Bewohner des Scheunenviertels nach Ausweiskontrolle passieren ließ, ballten sich Menschenansammlungen an den Absperrungen und skandierten Parolen wie: „Schlagt die Juden tot!“ In den folgenden Tagen kam es noch zu weiteren Plünderungen und Plünderungsversuchen, allmählich kehrte aber wieder Ruhe ein. Die Dimension der angewandten Gewalt im Scheunenviertel war eine andere als in anderen Gegenden. Da wurden Firmenschilder abgerissen und Schaufenster von Läden, die bereits ausgeplündert waren, zertrümmert, da wurde in Privatwohnungen eingedrungen und diese demoliert, da wurden vermeintliche Devisenhändler zu Boden gestoßen, wenn sie sich weigerten, ihr Geld herauszugeben, ausgezogen und misshandelt. Um ihre Kleidungsstücke entbrannten heftige Kämpfe, da in ihnen eingenähte Geldbeträge vermutet wurden. Allerdings fanden die geraubten Kleidungsstücke als solche auch begehrliche Abnehmer.

Vossische Zeitung vom 6. November 1923

War die Polizei in Charlottenburg – die Gegend um Kant-, Pestalozzi- und Bismarckstraße war ein weiteres Zentrum der Ausschreitungen – seit den frühen Morgenstunden des Montags präsent und verhinderte Plünderungen beziehungsweise verhaftete viele Täter noch am Tatort, so war im Scheunenviertel bis in die Nachmittagsstunden kaum ein Eingreifen der Ordnungskräfte zu vermelden. Hier wurde eine auffallend defensive Strategie angewendet. Allenfalls wurden Verfolgte und Überfallene in Schutzhaft genommen. Die Vossische Zeitung veröffentlichte die Schilderungen eines im Scheunenviertel praktizierenden jüdischen Arztes. Er schilderte, wie ein Polizeimajor in Begleitung zweier Schutzpolizisten im Auto an ihm vorbeifuhr, als er und andere Leidensgenossen von der Menge angegriffen und misshandelt wurden, obwohl es seiner Ansicht nach den Polizisten ein Leichtes gewesen wäre, einzuschreiten. Später wurde der Arzt in Schutzhaft genommen und schilderte auch diese Begebenheit: „Die Schupomannschaften schritten unter dauernden Mißhandlungen schwerster Art zu unserer Verhaftung. In der Kaserne in der Alexanderstraße auf dem Hofe mußten wir inmitten von ungefähr 200 Schupobeamten mit erhobenen Händen Aufstellung nehmen und wurden wiederum schwer mißhandelt. Mir selbst ist der Mittelhandknochen der rechten Hand zerbrochen worden. […] Die Zustände machten auf mich nicht den Eindruck, als ob ich mich in einem Rechtsstaat befände.“

Jüdische Rundschau vom 9. November 1923

Behördliche Repressionen gegen die sogenannten „Ostjuden“ standen in der Weimarer Republik auf der Tagesordnung. Die zumeist orthodoxen, allein durch ihr Äußeres auffälligen Einwanderer waren in den letzten Dekaden des 19.Jahrhunderts aus Furcht vor Pogromen aus Russland, Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten nach Deutschland gekommen, wohin ihre Vorfahren wiederum vor mittelalterlichen Verfolgungen in Mittel- und Westeuropa geflüchtet waren. Außerdem hatten die deutschen Behörden während des Ersten Weltkrieges versucht, ihren Arbeitskräftebedarf mit der Anwerbung und Zwangsrekrutierung von osteuropäischen Arbeitern, insbesondere aus den von Deutschland besetzten und überwiegend von Juden bewohnten Teilen Polens, zu decken. In den Wochen der Kapitulation und danach wurden die meisten ausländischen jüdischen Arbeiter, die oft in der Rüstungsindustrie tätig gewesen waren, von ihren Arbeitsstellen entlassen und standen sowohl mittel- als auch arbeitslos da. Obwohl sie zum größten Teil proletarischer Herkunft waren, sahen sich viele von ihnen so gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch Schwarzmarkt- und Schiebergeschäfte zu bestreiten, soweit es ihnen nicht gelang, sich durch Unterbieten von Lohnforderungen reguläre Arbeitsplätze zu beschaffen. Sie fristeten ihr Leben, so gut es ging, und bauten in manchen Städten ihre eigenen subkulturellen Zentren auf. Das bekannteste war das Berliner Scheunenviertel rund um die Grenadier-, Linien- und Dragonerstraße (heute [1992]: Almstadt-, Wilhelm-Pieck- und Max-Beer-Straße). Nur ein paar hundert Meter nordwestlich des Alexanderplatzes gelegen, bot dieses heruntergekommene Wohnquartier, das daneben ein Zentrum der Prostitution und der Berliner Kleinkriminellen war, den Einwanderern eine geradezu erbärmliche erste Heimstatt. Für viele sollte es nur eine Zwischenstation auf dem erhofften Weg nach Übersee oder zumindest in ein besseres Wohnviertel sein. Es verging kein Jahr in der Frühphase der Weimarer Republik, in dem das „Ostjudenproblem“ oder gar die „Ostjudengefahr“ nicht Gegenstand erregter Debatten im preußischen Landtag war. Die antisemitischen Maßnahmen öffentlicher Stellen und die Vorurteile des „kleinen Mannes auf der Straße“ standen in einer Beziehung der Wechselwirkung zueinander. Die „Ostjuden“ wurden insbesondere für Ernährungsengpässe und Wohnungsknappheit der Nachkriegszeit verantwortlich gemacht.

Dabei machte die Häufigkeit diese Vorwürfe diese selbst schon wieder zu Stereotypen. In der mildesten Form lauteten sie, dass man nicht wisse, ob das Brotgetreide reiche und ob man angesichts der Geldentwicklung genügend zukaufen könne. Deshalb sei es unmöglich, Fremden Asyl zu gewähren und sie „an der Schüssel, in der schon nichts vorhanden ist“, teilhaben zu lassen. So der DVP-Abgeordnete von Eynern 1922 im preußischen Landtag.

Auf Anordnung des preußischen Innenministers Heine (SPD) waren die Grenzen bereits im November 1919 gesperrt worden, um weitere Einwanderungen von „Ostjuden“ zu verhindern. Im März 1920 glaubte die preußische Regierung, General von Seeckt entgegenkommen zu müssen, dessen Reichswehr gerade dem Kapp- Putsch tatenlos zugesehen hatte und der in einem Memorandum vom 16.3. 1920 die Internierung aller Berliner „Ostjuden“ gefordert hatte. Sie ließ wahllos 250 „Ostjuden“ verhaften und in einem Militärlager internieren. In den folgenden Wochen und Monaten fanden weitere Razzien und Hausdurchsuchungen in Berlins „ostjüdischen“ Zentren statt.

Bereits in ihrer Sitzung vom 27.12. 1919 hatte die preußische Staatsregierung grundsätzlich die Einweisung aller „unerwünschter Ostjuden in spezielle Lager“ beschlossen. War unter dem sozialdemokratischen Innenminister Severing im November 1920 – gegen seine eigene Stimme – dieser Beschluss in die Tat umgesetzt worden und die beiden Konzentrationslager [sic!] Stargard und Cottbus zu diesem Zweck eingerichtet worden, so verschlechterte sich die Lage der „Ostjuden“ mit der Ablösung Severings durch Dominicus (DDP) im Frühjahr 1921 noch erheblich. Unter ihm wurden „unerwünschte Ausländer“, also zumeist solche ohne gültige Ausweispapiere, im großen Umfang interniert. Die beiden Konzentrationslager wurden erst im Dezember 1923 aufgelöst, nachdem in der Presse über die skandalösen und menschenverachtenden Zustände im Lager Stargard berichtet worden war.

Als die Presse in den Novembertagen 1923 vereinzelte Kritik am zögerlichen Einschreiten der Polizei im Scheunenviertel übte, erklärte Oberst Kaupisch, Kommandeur der Berliner Schutzpolizei, dass er eine antisemitische Einstellung der Schutzpolizei sowohl bei Mannschaften wie im Offizierskorps für vollkommen ausgeschlossen halte. Dennoch hielt er es für notwendig, am Montagnachmittag einen Tagesbefehl herauszugeben, in dem er seine Beamten aufforderte, das Gut und Leben jedes bedrohten Bürgers, gleichgültig welcher Konfession, unbedingt mit allen Machtmitteln zu schützen. Gegenüber einem Reporter des Berliner-Lokal-Anzeigers machte Kaupisch am Mittwoch die „östlichen Einwanderer“ für die Ausschreitungen verantwortlich.

Vorwärts vom 6. November1923

Im Verlauf des Dienstages, dem 6.11. 23, wurde der Polizeieinsatz dann auch im Scheunenviertel massiv. Mit Maschinengewehren ausgerüstete Panzerwagen patrouillierten durch die Straßen, erstmals wurden Gummiknüppel an 2.000 Schutzpolizisten ausgegeben, Rädelsführer verhaftet und zeitweise sogar der Einsatz der Reichswehr erwogen. Auf den Schutz durch die Polizei wollten sich viele der potentiellen Opfer aber nicht mehr verlassen. Während die größeren Kaufhäuser Posten aufstellen ließen, blieb den jüdischen Bewohnern des Scheunenviertels am Dienstag bestenfalls die Flucht zu Bekannten und Verwandten in ruhigere Stadtteile.

Quelle: Eike Geisel, Im Scheuenviertel, Berlin (1981)

Das Reichsernährungsministerium setzte bereits am Dienstag den Brotpreis wieder herab und sprach von einem Rechenfehler, woraufhin sich der Zweckverband der Bäckermeister Großberlins beeilte, mitzuteilen, dass es keinerlei Erstattungen an Verbraucher geben könne, die den Preis von 140 Milliarden gezahlt hätten.

Um allen Gefährdungen der wirtschaftlichen und politischen Wiedereingliederung Deutschlands in die Staatengemeinschaft entgegenzuwirken – im amerikanischen Kongress war die Ansicht vertreten worden, aufgrund der antisemitischen Exzesse Unterstützungszahlungen aufzuschieben– kabelte das halbamtliche Wolffsche Telegrafenbüro nach ein paar Tagen in alle Welt: „Alle Nachrichten von Judenpogromen in Berlin und Deutschland sind erfunden.“

„Die Ostjudenplage wird, da es sich hier nicht nur um lästige, sondern um höchst gefährliche Ausländer handelt, in ihrer jetzigen Duldung und wohlwollenden Behandlung künftighin politisch, wirtschaftlich und gesundheitlich die furchtbarsten Gefahren zeitigen.“ (Der sozialdemokratische Polizeipräsident Ernst in einem Bericht an den preußischen Innenminister vom 9.6. 1920).

(Das ist ein Artikel, den ich im Berliner Lokalteil der Taz vom 6.11.92 veröffentlicht habe. Ich habe lediglich die Rechtschreibung behutsam angepasst und die Abbildungen eingefügt.)

Lesetipps zu Hintergrund und Vertiefung des Themas:

Eike Geisel, Im Scheunenviertel, Berlin (1981)

Verena Dohrn (Hg.) / Gertrud Pickhan (Hg.), Transit und Transformation: Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918 – 1939 (Charlottengrad und Scheunenviertel), Göttingen (2010)

Patrice G. Poutrus, Die antisemitischen Ausschreitungen im Berliner Scheunenviertel 1923. Zur Berichterstattung der Wiener Tagespresse, in: S:I.M.O.N. – Shoah: Intervention. Methods, Documentation. 2 (2015) 2, 56-72

Online:https://www.academia.edu/19863068/Die_antisemitischen_Ausschreitungen_im_Berliner_Scheunenviertel_im_November_1923_

Stiftung Jüdisches Museum Berlin (Hg.) et al, Berlin Transit: Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren, Göttingen (2012). Katalog zur gleichnamigen Ausstellung: https://www.jmberlin.de/berlin-transit/ausstellung/orte.php

Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt: Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn (1999)

Reiner Zilkenat, Die antisemitische Saat ist nun in Berlin aufgegangen. Der Pogrom am 5. Und 6. November 1923, in: Verein Stiftung Scheunenviertel (Hg.), Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen Berlins, Berlin (1994), 95-101

Reiner Zilkenat, Der Holocaust – Niemand konnte ihn vorhersehen? Niemand kann ihn erklären? Zur Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung – Seminarmaterialien, Berlin – Brandenburger Bildungswerk e. V., Berlin (2014)

Online: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/Rechtsextremismus/zilkenat.pdf

28
Aug
14

Günter-Schwannecke-Spielplatz: Erinnerung an ein fast vergessenes Neonaziopfer


Eine Kurzmeldung im Tagesspiegel erregt meine Aufmerksamkeit: „Gedenktafel auf Spielplatz beschädigt. Unbekannte haben Löcher und Dellen in eine Gedenktafel geschlagen und Wörter zerkratzt. Der Polizeiliche Staatsschutz ermittelt.“

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Ungewöhnlicherweise hat der Spielplatz sogar einen offiziellen Namen (Günter-Schwannecke-Spielplatz) und liegt nur zwei Querstraßen von meiner Wohnung entfernt.

Ich habe zunächst keinen Schimmer, wer dieser Schwannecke ist und weshalb dieser Spielplatz – so unspektakulär, dass es meine Kinder nie dorthin zog – nach ihm benannt ist. Ich muss erst im Netz recherchieren.

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Günter Schwannecke mischt sich ein, als Nazis eine Gruppe von Studenten aus Sri Lanka auf diesem Spielplatz bedrohen und wird daraufhin von diesen Nazis totgeschlagen. Das ist über 20 Jahre her und wäre wohl vergessen, wenn nicht eine private Initiative gegen das Vergessen anginge.

Die Günter-Schwannecke-Gedenkinitiative hat versucht, sein Leben zu rekonstruieren und damit die Persönlichkeit Günter Schwannecke hinter dem konturlosen – als „Obdachloser“ stigmatisierten – Opfer hervor treten zu lassen und zu dokumentieren:

Schwannecke ist Kunstmaler. Er arbeitet mit verschiedensten Materialien und probiert unterschiedliche Stilrichtungen. Er ist ein hervorragender realistischer Zeichner, wendet sich aber auch dem Abstrakten zu, bis hin zum Tachismus, einem spontanen Malverfahren. Empfindungen werden dabei durch eine Art Farbrausch ohne direkten Wirklichkeitsbezug ausgedrückt. Der Kunstkritiker Walter Vitt lernt ihn bereits als Schüler kennen und urteilt: „Er war mir auch in der Geschichte der Kunst und im Begreifen des Wesens der Kunst um vieles voraus“. Schwannecke bricht die Schule ab, absolviert eine Ausbildung zum Positivretuscheur. Ein Positivretuscheur korrigiert analog fotografische Vorlagen, bevor sie reproduziert werden – was man heute üblicherweise mit Photoshop macht. Er studiert in den 50er Jahren an der Werkkunstschule Braunschweig und bekommt anschließend ein Begabtenstipendium für die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, wo er freie Malerei bei Manfred Henninger studiert. Neben der Kunst Henningers prägen Cézanne und auch Picasso den Kunststil des jungen Günter Schwannecke. Er reist mehrmals nach Paris, hält sich längere Zeit auf der Insel Ischia auf.

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1960 und 61 stellt er in Münster, Braunschweig und Fulda Kunstwerke aus. In Fulda in der „galerie junge kunst fulda“, in der auch später so bekannte Künstler wie Gerhard RichterJörg Immendorf und Hans Haacke ausgestellt werden. Im Sommer 1962 erlebt er die Schwabinger Krawalle in München. Er eröffnete in Braunschweig eine Galerie und finanzierte sich in seinem erlernten Beruf als Positivretuscheur mit einer freiberuflichen Tätigkeit  bei VW.

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1965 geht Schwannecke nach West-Berlin, hat Ausstellungen (u.a. im Europa-Center) und verkauft Werke. Im „stern“ erscheint ein Artikel über seine Kunst. Er gibt seinen Verdienst vollständig aus und kehrt 1976 verarmt nach Braunschweig zurück. Während der Terroristenhysterie des Deutschen Herbstes reißt er Fahndungsplakate ab und malt sie mit Silberstiften neu, gibt den „Terroristen“ ein neues Gesicht, „recycelt sie zu Menschen“. Anfang der 80er zieht es ihn wieder nach Berlin. Er stellt im Mehringhof aus, findet einen Agenten und lebt in einer Charlottenburger Wohngemeinschaft. Er malt Portraits von Menschen, die ihm begegnen: Punks, Wirte, Ärzte… Er will nun nichts mehr mit dem bürgerlichen Kunstbetrieb zu tun haben und der nichts mehr mit ihm. Schwannecke steht der Hausbesetzerszene nahe, geht auf Demos.

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Anfang der 90er ist er zunehmend von der Gesellschaft enttäuscht und will seinen Wunsch nach vollkommener Freiheit verwirklichen „Ich geh’ die Platte putzen“, soll er angekündigt haben als er auf die Straße zog. Im Jahr 1992 ist er teilweise ohne festen Wohnsitz, bekommt dann eine Unterkunft im Städtischen Wohnheim am Friedrich-Olbricht-Damm in Charlottenburg-Nord, wo Wohnungslose und Asylbewerber untergebracht sind.

Am 29. August 1992 sitzt Schwannecke mit seinem Freund Hagen Knuth, ebenfalls ein wohnungsloser Künstler, auf einer Bank des Spielplatzes an der Ecke Pestalozzi- / Fritschestraße. Sie feiern Knuths Geburtstag. Zwei Skinheads, Norman Zühlke und Hendrik Jähn, pöbeln vier Studenten aus Sri Lanka an, die dort Tischtennis spielen. Die beiden Künstler verteidigen die Studenten verbal, so dass sie entkommen können. Daraufhin beginnt Zühlke mit einem Baseballschläger auf die Männer einzuschlagen. Hagen Knuth wird nach einem schweren Hirntrauma im Klinikum Westend gerettet. Günter Schwannecke stirbt am 5. September 1992 an den Folgen von Schädelbruch und Hirnblutungen.

Der Täter wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge und schwerer Körperverletzung zu 6 Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Das Landgericht Berlin sieht seine rassistische Gesinnung als ursächlich für die Tat, sieht den Täter aber auch als vermindert schuldfähig, weil er betrunken war. Zühlke ist von diesem „harten Urteil“ geschockt. Gesinnungsgenossen rufen bei der Urteilverkündung: „Das war doch nur ein Penner“.

In der Statistik der Bundesregierung über Opfer rechter Gewalt von 1993 wird der Fall aufgeführt, 1999 und 2009 nicht mehr. Das Land Berlin zählt den Fall 2012 ebenfalls nicht. Auf eine Anfrage der Berliner Abgeordneten Clara Hermann (Fraktion der Grünen) im Januar 2012 antwortet der Berliner Senat, das Landgericht hätte kein politisches Motiv erkannt. Die Gedenkinitiative fordert, dass die Bundesregierung und der Berliner Senat Günter Schwannecke dauerhaft als Todesopfer rechter Gewalt anerkennen.

Fünf Tage vor der Tat in Charlottenburg belagert ein rassistisch aufgestachelter Mob in Rostock-Lichtenhagen ein Flüchtlingsheim und setzt es schließlich in Brand. Nicht nur die rechten Skinheads Zühlke und Jähn sehen sich dadurch ermuntert ihren Beitrag zu leisten und Menschen anzugreifen, die nicht in ihr beschränktes Weltbild passen. Nicht nur die NSU-Bande verübt rechtsradikal motivierte Morde. Über die genaue Anzahl von Todesfällen, die auf das Konto von Neonazis gehen wird gestritten. Viele Einzelschicksale von Opfern sind vergessen.

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Auch Günter Schwannecke ist es beinah so gegangen. Kein Journalist soll bei der Urteilsverkündung anwesend gewesen sein. Kein Pressevertreter macht sich die Mühe, etwas über die Lebensgeschichte Schwanneckes zu recherchieren. Er wird nur als Obdachloser wahrgenommen. Die Morgenpost titelt „Keulen-Hiebe töteten Stadtstreicher“, der Tagesspiegel „Prozeß um Tod eines Betrunkenen“. Niemand würdigt die Zivilcourage der beiden Opfer. Es gibt keine Demonstration. Der Mut mit dem Rechtsradikalen begegnet wurde, wird ignoriert. Schwannecke ist eben „kein Held für den Mainstream“, wie die Jungle World 20 Jahre später schreibt.

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Der Gedenkinitiative ist es zu verdanken, dass Schwannecke nicht vergessen ist. Sie gibt ihm seine Persönlichkeit zurück, „recycelt ihn zu einem Menschen“. Sie sorgt auch dafür, dass 2012 sämtliche in der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf vertretenen Parteien dafür stimmten, den Spielplatz nach Günter Schwannecke zu benennen.

Morgen, am 29. August 2014 ruft die Initiative zum dritten Mal zu einer Gedenkkundgebung auf. Günter-Schwannecke Spielplatz, Ecke Pestalozzi- / Fritschestraße, 18.00 bis 19.30 Uhr. Blumen soll man mitbringen. Ich werde mein Büro etwas eher verlassen und dabei sein.

Die Abbildungen 1,3,4,5,6,7 sind der Seite der Günter-Schwannecke-Gedenkinitiative entnommen.
Abbildungen 1,6,7: CC by-nc-sa 3.0
Abbildungen 3,4,5: © Archiv W. Vitt Köln

20
Sept
12

Der unterschlagene Filmschnipsel: Zimmermann auf Mofa


Das NSDAP- und CSU-Mitglied Friedrich Zimmermann ist gestorben. Er hinterlässt tatsächlich eine Sache, die mir positiv in Erinnerung bleibt. Eine kurze Filmsequenz, aufgenommen am 5. März 1985 in Hangelar bei Bonn, anlässlich der Vorstellung eines geräuschreduzierten Mofa-Prototypen des Herstellers Hercules.

Im langen Mantel sitzt Zimmermann auf dem Zweirad, gibt mutig Gas und kachelt ungebremst und todesmutig wie ein Berserker über die Blumenrabatte.

Jedes Mal wenn ich diesen Filmschnipsel im Fernsehen oder im Internet gesehen habe, prustete es aus mir heraus. Aber die Aufnahme ist verschwunden. Ich reagiere gewöhnlich allergisch auf jede Art von Verschwörungstheorien, aber hier liegt sie auf der Hand. Die Sequenz wurde in Rudis Tagesschau gezeigt und vermutlich jeder Zweite aus meiner Generation kann sich an die Aufnahme erinnern. Jeder, auch nur annähernd komische Clip wird tausendfach im Netz kopiert. Aber die Aufnahme von Zimmermann auf dem Mofa ist komplett verschwunden! Googelt man Entsprechendes, stößt man nur auf Fragen nach einem Link zu dem Clip. Nie gibt es darauf eine befriedigende Antwort. Lediglich ein Foto taucht gelegentlich auf, auf dem er aber erstaunlicherweise mitten auf dem Weg fährt!

Wer hat die Aufnahme verschwinden lassen? BKA? CIA? Das internationale Finanzkapital? Die Bilderberger? Sind die 80er Jahre nur eine Erfindung, so wie Bielefeld? Sachdienliche Hinweise werden gerne entgegen genommen.

02
Jan
12

Ausgekurbelt: Charlottenburger Traditionskino wird zum Biosupermarkt


Die Leuchtbuchstaben, die bis vor kurzem den Meyerinckplatz allabendlich in rotes Licht tauchten, sind abgeflext, Popcornmaschinen, Kinositze, Lampen und alles andere ist verramscht. Die Kurbel gibt es nicht mehr. Noch existiert die Website des Kinos, aber sie gibt nicht mehr viel her:

Im leeren Schaukasten spiegelt sich die Ankündigung, dass hier nach einem Entwurf des Architekten Christopher von Bothmer der „Umbau von 3 Kinosälen in einem (sic!) Biomarkt und 6 Wohnungen“ erfolgen soll. Jemand hat einen eindeutigen Kommentar hinterlassen.

Gegen die Schließung des Kinos hat sich die Bürgerinitiative „Rettet die Kurbel“ formiert. 7500 Unterschriften wurden gesammelt und fast 4000 Unterstützer wurden auf facebook gewonnen. Die Initiative bestreitet, dass das Kino unrentabel sei. Der Betreiber – und Gebäudeeigentümer – habe notwendige Investitionen unterlassen. Bei der Umwidmung gehe es ihm um Profitmaximierung. Unter den teiweise prominenten Unterstützern finden sich unter anderem Berlinale-Chef Dieter Kosslick, der Kunstsammler Peter Raue, Wim Wenders, Rosa von Praunheim ebenso wie eine ganze Riege von Schauspielern wie Otto Sander, Angelika Domröse oder Oliver Kalkhofe. Das Medienboard Berlin-Brandenburg schaltet sich ein, das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf fordert den Eigentümer auf, die Schließung auszusetzen und ein „Moratorium“ bis zum Sommer 2012 zu akzeptieren um bis dahin eine tragfähige Lösung zu finden. Angeblich gäbe es mehrere Interessenten, die das Kino weiter betreiben wollten.

Der Biosupermarkt Alnatura will in dem Gebäude ab dem Frühjahr 2013 Müsli und Dinkelstangen verkaufen. Aber man hat offenbar kalte Füße bekommen: „Sofern eine Möglichkeit besteht, den Kinobetrieb weiter zu führen, werden wir dem nicht im Wege stehen,“ verkündet eine Unternehmenssprecherin.

Der Eigentümer Symcha Karolinski denkt allerdings nicht daran, den Vertrag mit Alnatura aufzulösen. Er fühlt sich zu Unrecht kritisiert. Er habe das Kino 2005 übernommen, weil es keiner wollte, in Eigenregie betrieben und zwei Mal vor der Pleite gerettet. Seine Kritiker hätten lieber öfter ins Kino gehen sollen. Neben 16 großen Multiplexkinos hätte die Kurbel keine Chance mehr gehabt. Die drei Interessenten könnten „ nicht die notwendige Bonität aufweisen“. Gegen das Moratorium stünden die Verträge mit den Baufirmen.

Karolinski plant, das marode Gebäude für mehrere Millionen umfassend zu sanieren. Er spricht von einem sechsstelligen Verlust, den er in den vergangenen fünf Jahren mit dem 600-Sitze-Kino gemacht hat und er fühlt sich von der Initiative genötigt und hat Anzeige erstattet.

Die Räume beherbergen auch schon ein Ladengeschäft, bevor der Architekt Karl Schienemann sie zum Kino umbaut. Unter heftigen Anfeindungen des Inhabers der benachbarten Minerva-Lichtspiele Heinrich Hadekel, eröffnen die jüdischen Betreiber Heinz Grabley und Hanna Koenke 1934 die Kurbel. Bereits 1935 erfolgt der Umbau zum ersten „echten“ Tonfilmkino mit einer speziellen akustischen Dämmung. Im Rahmen dieser Modernisierung werden das markante umlaufende Vordach und viele Lichtakzente geschaffen. Die Betreiber wollen vorwiegend ausgewählte internationale Produktionen in der Originalfassung ohne Untertitel und Synchronisation zeigen. Zwei Jahre später übernimmt Walter Jonigkeit, der später zur Berliner Kinolegende werden soll, die Kurbel. Über die Umstände der Übernahme und das weitere Schicksal der jüdischen Kinogründer konnte ich nichts in Erfahrung bringen.

Jonigkeit gelingt es, das Kino bis in den Krieg hinein weiter zu betreiben. Als es nach Bombenabwürfen Feuer fängt, drückt ihm die unterbesetzte Feuerwehr eine Spritze in die Hand, die er abwechselnd mit einem Freund bedient und so das Kino rettet. Erst gegen Ende des Krieges wird die Kurbel zum Munitionslager zweckentfremdet. Nach der Befreiung lässt Jonigkeit die dort vorgefundenen Panzerfäuste zerlegen. Die ausgebauten Feuersteine sind begehrte Tauschware, mit deren Hilfe das Kino instand gesetzt werden kann.

Schon am 27. Mai 1945 nimmt die Kurbel nach dem Marmorhaus als zweites Berliner Kino seinen Betrieb wieder auf. Jonigkeit hat von einem russischen Unteroffizier, der in einem Pankower Tabakladen ein Filmlager verwaltet, den russischen Film „Um sechs Uhr nach Kriegsende“ ergattert. Der Film ist unübersetzt, aber die Zuschauer kommen.

Von Dezember 1953 bis zum April 1956 läuft in der Kurbel „Vom Winde verweht“. In 2395 Vorstellungen sehen rund 6 000 000 Zuschauer den Film. Die Platzanweiserinnen müssen bei täglich drei Vorstellungen halbjährlich in ein anderes Kino versetzt werden. Sie können die Filmdialoge nicht mehr hören und sprechen fast nur noch in Filmzitaten. Der Straßenbahnschaffner – ja, bis 1967 gab es auch in Westberlin Straßenbahnen – ruft die Haltestelle angeblich so aus: „Ku`damm, Ecke Giesebrechtstraße, Vom Winde verweht – aussteigen“. Jonigkeit macht ein Nebengeschäft mit selbstgemachten Programmheften. Abends sammelt er die abgerissenen Kinokarten auf und verteilt sie in der S-Bahn. „Die Kamera – das Haus des guten Films“ steht drauf. Als bei ihm später die „Die Brücke am Kwai“ läuft, besticht er die Tanzkapellen der Stadt, dass sie recht häufig den River-Kwai-Marsch spielen, und ihm so das Publikum ins Haus zu bringen.

Kassenraum und Foyer erfahren in den 50ern durch Verglasung der Eingangskolonnaden eine großzügige Erweiterung. Im Oktober 1957 kommt es zum Skandal als Jonigkeit das Kino an die FDJ vermietet, die zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution den sowjetischen Film „Peter der Große“ zeigen will. Die Polizei befürchtet eine Störung der öffentlichen Ordnung und verbietet die Veranstaltung.

Die rapide sinkenden Besucherzahlen Anfang der 70er Jahre zwingen Jonigkeit zur Aufgabe der Kurbel. Nach einem kurzen Intermezzo als Pornokino eröffnet das Haus 1974 neu als Off-Kino. Wechselnde Betreiber versuchen sich an Programm- und Arthaus-Kino, ab 1995 werden nur noch Filme in der englischen Originalfassung gezeigt. Nachdem 2001 das Cinestar am Potsdamer Platz beginnt OV-Filme anzubieten, zeigt die Kurbel trotz Besucher-Protesten wieder synchronisierte Fassungen. 2003 geht der letzte Betreiber, die Ufa Theater AG, in die Insolvenz und schließt deutschlandweit 33 Kinos – darunter auch die Kurbel. Anfang 2004 versucht sich ein neuer Betreiber mit einem „One Dollar“-Konzept. Man zeigt für 2,99 Euro Filme, die gerade in den großen Häusern ausgelaufen sind und meldet noch im selben Jahr Konkurs an. Ab Februar 2005 nimmt der Hausbesitzer, der das Gebäude 1993 erwarb, den Filmbetrieb in Eigenregie auf und engagiert Moishe Waks als Geschäftsführer. Nach seinem Tod 2009 wird Tom Zielinski sein Nachfolger.

Tom Zielinski war im Dezember mit dem Verkauf von Technik und Inventar der Kurbel beschäftigt. Auch ich bin an einem Verkaufstag vor Ort, bringe es aber nicht übers Herz, etwas mit nach Hause zu nehmen.

„Vom Winde verweht“ ist der letzte Film, der am 21. Dezember in der Kurbel gezeigt wird. Am 2. Januar 2012 soll der Umbau beginnen.

Ehemalige Adresse: Giesebrechtstr. 4, 10629 Berlin

17
Sept
11

Gasthof zum Grünen Baum in Boitzenburg


„Der Gasthof zum Grünen Baum“ ist ein Ort der eher war und sein wird als einer, der ist. Es wird sicher noch einige Jahre dauern, bis man hier logieren kann. Es ist aber möglich, die Auferstehung dieses Ortes zu verfolgen und zu begleiten.

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Als es mich vor über sieben Jahren auf der Suche nach einem für meine Hochzeitsfeier geeigneten Ort in die Uckermark verschlug, fiel mir das Gebäude schon beim Vorbeifahren auf und ich entzifferte den an der verwitterten Fassade erhalten gebliebenen Namenszug „Gasthof zum grünen Baum.“ (Der Punkt hinter Baum steht wirklich da). So heruntergekommen wie das Haus aussah, strahlte es dennoch einen eigentümlichen Charme aus. Wäre es ein Mensch gewesen, hätte ich wohl etwas gesagt wie: „Es scheint Dir nicht gut zu gehen, aber ich würde Dich unheimlich gerne kennen lernen. Jetzt lad ich Dich erstmal zu einem anständigen Essen und einem guten Glas Wein ein und dann werden wir schon sehen, wie es weiter gehen kann.“

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Ich weiß nicht, wann die Gastronomie eingestellt und das Gebäude dem Verfall anheim gegeben wurde. In den 50er Jahren wurde hier zumindest noch Bier ausgeschenkt. Wie wohl auch schon Jahrhunderte vorher. Die erste Nennung ist auf das Jahr 1772 datiert und im Landeshauptarchiv Potsdam zu finden. Im „Oberkrug“, wie der Gasthof damals noch hieß, legten die Postkutschen auf der Route Berlin-Stettin einen Zwischenstopp ein und wechselten die Pferde.

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Eine alte Postkarte lässt vermuten, dass das Haus irgendwann um 1900 den Namen „Gasthof zum Grünen Baum“ bekam. Von 1900 bis 1920 führten Albert und Hermine Biss den Gasthof, danach übernahm ihr Sohn Walter mit seiner Ehefrau Gertrud den Betrieb.

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Das ältere Gebäude wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgerissen und durch die jetzigen Bauten ersetzt. Während das Hauptgebäude auf einem Feldsteinfundament errichtet wurde, über das sich ein zweigeschossiger Putzbau mit einem Satteldach erhebt, wurde das hofseitige Stallgebäude anderthalbgeschossig aus unverputzten roten Ziegeln gebaut. Im kleinen, straßenseitig gelegenen Biergarten sind die alte Lindenbepflanzung sowie eine kleine Freitreppe und die niedrigen Befestigungsmauern der Terrasse erhalten geblieben.

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Am diesjährigen Tag des offenen Denkmals war es nicht nur möglich, sich das Gebäude von innen anzusehen, sondern auch zu erfahren, wie es wiederbelebt werden soll. Im Moment sieht es von innen genau so schlimm aus wie von außen: marodes Gebälk, feuchte Wände, und entfernte Decken und Böden korrespondieren mit glaslosen Fenstern und verwittertem Putz.

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Aber der Architekt und Tischler Carsten Frerich und die Grafikdesignerin Ulrike Hesse haben sich des Hauses angenommen. Sie haben den Zustand des Gasthofes von Fachleuten untersuchen lassen und sie wirken kompetent und realistisch genug, dass man davon ausgehen kann, dass sie ihre Pläne umsetzen werden und dem denkmalgeschützten Haus neues Leben einhauchen. Ein Hotel mit zehn Zimmern im Hauptgebäude und drei Appartements im Stallgebäude soll es werden, natürlich mit Gastronomie und Biergarten. Auf ihrer Website – und auf einem gerade entstehenden Blog – kann man die aktuellen Planungen und Entwicklungen verfolgen und sich über die Geschichte des Gasthofes informieren. In einem Glossar lässt sich zudem Wissenswertes über das Boitzenburger Land nachlesen.

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Den beiden Instandsetzern kann man natürlich nur allen erdenklichen Erfolg wünschen und einigen anderen maroden Gebäuden in Boitzenburg wünscht man, dass sich Menschen finden, die sich ihrer in ähnlicher Weise annehmen.

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Adresse: Gasthof zum grünen Baum, Templiner Straße 4, 17268 Boitzenburger Land

09
Sept
11

Wer sucht, der findet…


Der Herr Vilmoskörte, Moabit-Papst, hat in der Statistik von WordPress nachgesehen bei welchen Suchbegriffen auf sein Blog geführt wurde und die besten in seinem Blog-Beitrag „Vogel ohne Fleisch…“ aufgelistet. Das musste ich ihm natürlich gleich nachmachen und war dann doch etwas irritiert. Vermutlich waren die Verfasser der folgenden Suchanfragen eher unbefriedigt, als sie hier gelandet sind:

meerschweinchen schlachten

hundemetzgerei augsburg

friedrichstrasse bis königs wusterhausen mit zugverbindung

gegen sommersprossen selber weg

zeitliche leichen verwesung

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wurden mumien an der strasse verkauft

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hat dünnen stuhl abgesetzt

stein- und judenfreier badestrand

scheng schong schang ich kann nicht nicht nicht schlafen

eigenartig

melancholiker

10
Jun
11

Finanzamt Charlottenburg: Hinter die Hausnummer geschaut


Zugegeben, dass Verhältnis zwischen meinem Finanzamt und mir ist nicht das Beste. Ich bin mit meinen Steuererklärungen seit Jahren im Rückstand.

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Aber darum geht es mir hier nicht. Es geht um das Gebäude, in dem das Finanzamt Charlottenburg residiert. Basierend auf dem Entwurf der Stadtbauräte Brucker und Kepler wurde es 1939 vollendet. Damals war es das größte Finanzamt Berlins. Es besteht aus einem repräsentativen Haupttrakt in der Bismarckstraße, einem Mittelflügel und einem rückwärtigen Gebäudeflügel in der Spielhagenstraße. Hier machen die Bürofenster heute mitunter geradezu einen schmuddeligen Eindruck.

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Insgesamt wirkt das Gebäude eher langweilig und einfallslos. Ein monumentaler Akzent wurde mit der über drei Geschosse reichenden Portalnische am Haupteingang gesetzt. Vier kantige Muschelkalkpfeiler markieren diesen Bereich.

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Besucher die hier eintreten, werden unter einem Adlerrelief mit Hoheitszeichen empfangen. Nur wenige Eingeweihte wissen, dass der Adler in seinen Krallen ein Hakenkreuz umklammert, heute lediglich verdeckt von einer Hausnummernleuchte.

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Auf facebook gibt es eine Seite, die zur Entfernung des Adlers und des Hakenkreuzes aufordert.

Das wäre der falsche Weg. Natürlich haben damals die Befreier alle Symbole des widerlichen Naziregimes im Boden zerstampfen mögen. Heute kann man solche Relikte nutzen, um Auseinandersetzungen mit Kontinuitäten und Erinnerungen an authentischen Orten zu provozieren. Also weg mit der verdeckenden Leuchte, das Hakenkreuz gezeigt und die Behörde in die Pflicht genommen, wie sie nicht nur ihre Naziarchitektur erklärt, sondern auch drüber informiert, welche Rolle die Finanzämter bei der bürokratisch organisierten Beschlagnahme jüdischen Eigentums gespielt haben.

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Das Gebäude liegt an der Ost-West-Achse, die in den Germania-Plänen der Nationalsozialisten für ihre Reichshauptstadt eine zentrale Rolle spielte. Gemeinsam mit der faschistischen Architektur des Finanzamtes bilden die davor platzierten Straßenlaternen ein stimmiges Ensemble. Entworfen hat sie Albert Speer, Hitlers Lieblingsarchitekt und Handlanger, Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, angeklagt im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof und wegen seiner Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen und zu 20 Jahren Haft verurteilt.

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Adresse: Finanzamt Charlottenburg, Bismarckstraße 48, 10627 Berlin

20
Mai
11

Friedhof des Zellengefängnisses Moabit


Nur ein paar dutzend Schritte vom geschäftigen Berliner Hauptbahnhof entfernt versteckt sich der Friedhof des Zellengefängnisses Moabit. Präziser: der Teil dieses Friedhofes, in dem die Beamten des Gefängnisses bestattet wurden. Den anderen Teil, auf dem die gestorbenen Gefangenen ihre „letzte Ruhe“ fanden, hielt wohl niemand für erhaltenswert und so entstand nach 1955, als der Friedhof geschlossen wurde, auf diesem Areal eine Kleingartenanlage. Hier wird auf Gräbern gegrillt.

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Die meisten Grabsteine sind umgefallen, zerstört oder überwachsen. Vor ein paar Jahren hat man den schmiedeeisernen Zaun um die Gräber restauriert. Das Tor ist verschlossen. Einer der wenigen erhaltenen Grabsteine ist der von Ernst Vetter: Hier/ ruhet in Gott/ mein lieber Mann/ und guter Vater,/ der Kgl.Strafanstalt-/ Aufseher/ Ernst Vetter/ * 28.2.1858, + 3.4.1918.

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Neben dem Friedhof sind noch Teile der Gefängnismauer und drei Beamtenwohnhäuser übrig geblieben. An der Lehrter Straße erinnert eine Gedenktafel an die Opfer der Nazizeit.

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Nach jahrzehntelangen Auseinadersetzungen gibt es seit 2006 nach Plänen von Silvia Glaßer und Udo Dagenbach einen gelungenen Geschichtspark auf dem Gelände des eigentlichen Zellengefängnisses.

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Das Gefängnis wurde von 1842 – 1849 von Carl Ferdinand Busse als Kopie des Londoner Gefängnisses Pentonville als preußisches Mustergefängnis errichtet. Die Gefangenen sollten durch strengste Isolation voneinander geläutert werden. In fünf sternförmig angeordneten Flügeln gab es Einzelzellen, die vom Zentralbau aus überwacht wurden. Schweigepflicht, scheuklappenähnliche Mützen, die außerhalb der Zelle getragen werden mussten, Einzelhofgang in 10 qm großen dreieckigen Teilstücken des Hofes (daher kommt die Redensart „im Dreieck springen“) und selbst in der Gefängniskirche Sitze in sargähnlichen Holzkisten, sorgten dafür, dass zahlreiche Gefangene die Flucht in den Wahnsinn oder den Suizid antraten. Folgerichtig wurde 1886 ein Nebengebäude zum Irrenhaus umgebaut.

Noch vor Abschluss der Bauarbeiten wurden die ersten Gefangenen, polnische Freiheitskämpfer, einquartiert. Sie wurden 1848 von Berliner Märzrevolutionären befreit. Prominente Gefangene waren danach Friedrich Wilhelm Voigt, der später als „Hauptmann von Köpenick“ ganz groß raus kam. 1878 wurde Max Hödel hier hingerichtet. Er hatte sich an einem Attentat auf den Kaiser Wilhelm I. versucht. Während des ersten Weltkrieges wurden Kriegsgegner und später Teilnehmer der Novemberrevolution inhaftiert. 1933 wurde Erich Mühsam hier eingesperrt. 1940 quartierte sich die Wehrmacht in einem Flügel ein. Der Schriftsteller Wolfgang Borchert saß hier über neun Monate wegen Wehrkraftzersetzung in Einzelhaft. Unter dem Eindruck der Lautsprecheransage des nahen Lehrter Bahnhofs schrieb er das Lied „800 mal Lehrter Straße“. 1941 zog die Gestapo ein. Neben vielen heute vergessenen Antifaschisten war der Sänger und Schauspieler Ernst Busch hier eingekerkert, später zahlreiche Widerstandskämpfer im Umfeld der Attentäter des 20. Juli. In den letzten Kriegstagen wurden 16 politische Gefangene aus ihren Zellen verschleppt und auf dem nahe gelegnen ULAP-Gelände per Genickschuss ermordet. Der junge Kommunist Herbert Kosney überlebte die Hinrichtung schwer verletzt. Ohne diesen Augenzeugen wäre vielleicht auch dieses Verbrechen vergessen. In den Taschen der Leiche des Dichters Albrecht Haushofer fand man die im Gefängnis erstandenen „Moabiter Sonette“.

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Nach der Befreiung nutzten die Alliierten das durch Bomben kaum beschädigte Gebäude bis 1955. Zwischen 1946 und 1949 fanden hier mindestens zwölf Hinrichtungen (nach anderen Quellen 48) statt. Als Letzter wurde am 11. Mai 1949 der 24-Jährige Bertold Wehmeyer guillotiniert.

Um Platz zu schaffen für die – zum Glück nie realisierte – Westtangente wurde das Zellengefängnis 1958 abgerissen.

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Zum ersten Mal war ich während einer Nachtwanderung im Rahmen einer Geburtstagsfeier einer Kindergartenfreundin meiner mittlerweile über 20-Jährigen Tochter auf dem Friedhof. Abgesehen davon bin ich hier bei meinen Besuchen fast immer wunderbar allein. Ich versuche mir nicht nur die Vergangenheit dieses Ortes vorzustellen, sondern denke auch über den Unterscheid zwischen allein und isoliert sein nach. Auf dem Nachhauseweg bin ich dann immer sehr zufrieden mit meinem bescheidenen Dasein.

Adresse: Lehrter Straße, 10557 Berlin, hinter den Schrebergärten, die sich gegenüber der Einmündung Seydlitzstraße befinden

08
Apr
11

Deutschlandhalle: Das war´s.


Jetzt mal ernsthaft: niemand findet sie schön. Da gibt es höchstens Personen, die einen schon ganz und gar verbrannten Sonntags-Volks-Eintopf noch einmal aufköcheln lassen wollen und behaupten, die Entscheidung, den Kasten zu beseitigen, sei zum einen durch den Gebäudenamen, zum anderen durch den Umstand, dass der (Ver)führer ihrer Großeltern die Halle eingeweiht hat, motiviert. Mit Leuten aus dieser Ecke spiele ich sowieso nicht. Ihnen fehlt jeder ernstzunehmende Sinn für Ästhetik.

Gesamt

Aber an dem Ding klebt die kollektive Berliner Erinnerung.

Im Vorfeld der olympischen Spiele 1936 wird die Halle in der bemerkenswerten Zeit von nur neun Monaten errichtet. Von den Architekten Franz Orthmann und Fritz Wiemer für 10.000 Besucher entworfen, gilt sie als größte Mehrzweckhalle der Welt. Zunächst finden hier Sportveranstaltungen und Massenveranstaltungen der NSDAP statt.

Deutschland

Im Rahmen der Kolonialshow „Ki sua he li“ führt Hanna Reitsch 1938 den weltweit ersten Hubschrauber-Hallenflug vor. Sechs Jahre später versucht die Flugenthusiastin Hitler persönlich von ihrer Idee der „Selbstopfer-Flugzeuge“ zu überzeugen. Es geht um bemannte Bomben, die in Kamikaze-Art als Selbstmordkommandos operieren sollten, geflogen „von Menschen, die bereit sind, sich selbst zu opfern, in der klaren Überzeugung, dass kein anderes Mittel mehr Rettung bringen konnte,“ wie Reitsch in ihrer zuletzt 2001 aufgelegten Autobiografie „Fliegen, mein Leben“ schreibt.

Halle

1937 findet hier die Weltpremiere von „Menschen – Tiere – Sensationen“ statt. Im Januar 1943 machen, während einer ausgebuchten Aufführung dieser Show, britische Bomben das Gebäude zum ersten Mal platt. Bemerkenswerterweise sterben dabei weder Menschen noch Tiere. Von der Halle selbst bleiben allerdings nur Rudimente übrig. Bereits 1949 beschließt der Magistrat von Gesamt-Berlin den Wiederaufbau, allerdings finanziert mit privatem Kapital. Die Wiedereröffnung findet erst 1957 statt.

Es folgen Auftritte der Rolling Stones und von Queen mit Freddie Mercury und dem „British Tattoo“ mit der Queen als Besucherin, die der Legende nach ihr eigenes mobiles Klosett mit brachte. Dire Straits, Police, Prince, Tina Turner, Udo Jürgens, die Berliner Philharmoniker, Bob Dylan, New Kids on the Block, Boxkämpfe und Kirchentage, Willy Brandt führt durch Knopfdruck das Farbfernsehen ein, Peter Gabriel, die Fantastischen Vier, die Gründung von „Brot für die Welt“ und Jimi Hendrix, Holiday on Ice und Johnny Cash, Herbert Grönemeyer und Sechstagerennen, Muhammad Ali, Santana, Harry Belafonte….

Klaus Kinski. 1971. „Jesus Christus Erlöser“. Das Genie verspricht die „erregendste Geschichte der Menschheit“ zu erzählen, von einem der „furchtlosesten, freiesten, modernsten aller Menschen, der sich lieber massakrieren lässt, als lebendig zu verfaulen.“ Premiere in der Deutschlandhalle. Es kommt zum Eklat, als ein Zwischenrufer seine Vorstellung eines duldsamen Jesus darstellt. Kinski explodiert.

Obwohl ich von je her eher kleine Hallen bevorzuge, bin ich mir doch sicher, Anfang der 80er mindestens ein Konzert in der Deutschlandhalle besucht zu haben. Aber im Gegensatz zu den überschaubaren Konzerten, will sich eine konkrete Erinnerung an die Bands in der Deutschlandhalle nicht einstellen. Aber Trost kam ja schon aus berufenem Munde: Wer sich an die 80er Jahre erinnern könne, habe sie nicht wirklich erlebt…

Ohne es zu wissen, kennen viele die Deutschlandhalle aus der Verfilmung von „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Hier spielt David Bowie life seinen Song „Heroes“. Ein Lied inspiriert von einem Paar, das sich Tag für Tag ausgerechnet bei einer Bank unter einem Wachturm an der Berliner Mauer traf und Bowie während seinen Aufnahmen in den Hansa-Tonstudios auffiel. „Die Mauer im Hochen(?) wird kalt.“

Drei Tage, nachdem die Mauer dann tatsächlich fällt, gibt es noch einmal ein legendäres Konzert in der Halle. Das elfstündige Rockkonzert soll Jugendliche aus der DDR willkommen heißen. BAP, Pankow, Ulla Meinecke, Konstantin Wecker, Silly, Udo Lindenberg, Joe Cocker, Melissa Etheridge und etliche andere sind dabei. Die wunderbaren 3 Tornados haben ihren letzten Auftritt. „Set me free. Konzert für Berlin 12. November 1989“ heißt die filmische Dokumentation von Holger Senft.

Der letzte Zustand der Deutschlandhalle, die braugetünchten Außengänge, die abgestoßenen Ecken allerorten, die altersschwachen Sitze, erinnern an einen überdimensionierten Partykeller, übrig geblieben aus der Zeit, als man eben Partykeller hatte. Die Akustik galt immer als grauenhaft.

Schalter

1998 beschließt der Senat, es solle Schluss sein mit Musikveranstaltungen. 2001 wird die Halle für den Eissport umgebaut und beherbergt, nach dem Abriss der Eissporthalle Jafféstraße, diverse Clubs aus dieser Sparte.

Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf versucht den Abriss zu verhindern. Der Senat zieht das Verfahren an sich. Die Halle sei weder „technisch noch wirtschaftlich zu betreiben“ meint unsere Stadtentwicklungssenatorin. Die Entscheidung des Abrisses ist gekoppelt an die Entscheidung, das ICC zu sanieren. Der Abriss soll im Laufe des Jahres 2011 erfolgen. Die landeseigene Messegesellschaft errichtet auf dem Areal eine neue Messehalle.

Eingang

Das war es dann.

Ehemalige Adresse: Messedamm 26, 14055 Berlin

17
Mai
10

Ein Zug will erinnern. Die Bahn will es nicht.


Der „Zug der Erinnerung“ ist wieder in Berlin. Nach den Stationen in Berlin-Grunewald und Spandau steht er nun in Berlin-Schöneweide. Dort hat die Bürgermeisterin von Treptow-Köpenick eine Einladung ausgesprochen. Das Bezirksarchiv beteiligt sich an der Spurensuche nach den Deportierten, das Schulamt wirbt um den Besuch von Jugendlichen. Schöneweide ist die vorletzte Berliner Station. Zum Fahrtabschluss in der Bundeshauptstadt wird der Zug im zentralen Bahnhof Friedrichstraße (Mitte) stehen.

Der „Zug der Erinnerung“ gedenkt der Kinder und Jugendlichen, die während der Nazizeit mit der Deutschen Reichsbahn in Konzentrationslager transportiert wurden. Das staatliche Bahnunternehmen verschleppte etwa 3 Millionen Menschen, darunter eine Million Kinder und Jugendliche. „Wir wollten nicht das Grauen der Deportationen zeigen, die Leichen. Sondern die Hoffnung der Kinder auf Leben“, sagt Hans-Rüdiger Minow, Vorsitzender des Vereins „Zug der Erinnerung“. In knappen Biografien bekommen die Gesichter einen Namen und eine Geschichte. Sie endet beinahe immer tödlich: in Auschwitz, Treblinka, Theresienstadt und anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Nur Wenige haben das Grauen überlebt. Die Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn, die Bundesbahn und nach 1993 Deutsche Bahn sperrt sich gegen Gespräche mit den Überlebenden Auch ein Schreiben ehemaliger Deportierter an Verkehrsminister Ramsauer (CDU) ist seit November letzten Jahres unbeantwortet. Umgerechnet 445 Millionen Euro soll die Reichsbahn bis 1945 mit dem Transport in die Konzentrationslager verdient haben. Geld, das die SS den Deportierten abgenommen und pauschal pro Person und Kilometer an die Bahn weitergereicht habe. Die Deutsche Bahn berechnet dem „Zug der Erinnerung“ rund 1000 Euro für jeden Tag, an dem die Initiative die Gleise nutzt. Er wird behandelt wie irgendein Gütertransport. Schon 2008 hatte die Deutsche Bahn mit Hinweis auf die betrieblichen Abläufe immer wieder die Einfahrt des Zuges an großen Bahnhöfen Berlins verwehrt oder verzögert.

Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass in einem Waggon auch die Geschichte der Täter erzählt wird, die häufig ihre Karrieren nach der Befreiung nahtlos fortsetzen konnten.

Schöneweide: Montag, 17. Mai bis Mittwoch, 19. Mai
jeweils 8:30 Uhr bis 19:00 Uhr
Friedrichstraße, Gleis 2: Donnerstag, 20. Mai bis Freitag, 21. Mai
jeweils 8:30 Uhr bis 19:00 Uhr
http://www.zug-der-erinnerung.eu/